Tabea Michel arbeitet seit 2013 ehrenamtlich bei uns. Zunächst als Jurymitglied eines Schreibwettbewerbs für Jugendliche, dann als Mitredakteurin unseres Kiezkochbuchs Friedrichshain kocht und schließlich als Vorleserin für Kinder in unserem Laden in der Wühlischstraße. In ihrer Kolumne „Tabeas Textetunnel“ präsentiert sie uns ihre ganz persönliche Sicht auf die Welt: mit einem Augenzwinkern und garantiert ohne Tunnelblick. Wir wünschen Euch viel Freude beim Hindurchfahren!

Über das Teilen
Ich war nie gut in Mathe und von den vier Grundrechenarten fand ich Teilen am schlimmsten. Wie oft geht die Dreiunddreißig in die Fünfhundertsiebenundvierzig? Keine Ahnung, das muss die Dreiunddreißig schon selbst wissen! Sie ist schließlich keine Drei mehr, sondern eine Doppeldrei, da kann man von ihr erwarten, dass sie sich auskennt. Dass sie weiß, wie oft sie etwas tun kann, ohne dass es am Ende knapp wird. Ich war empört, ja beinahe beleidigt, und hörte nicht mehr zu. Statt Zahlen malte ich Muster in die Karos meines Mathehefts und hoffte auf das Ende der Stunde. Daran änderte sich meine ganze Schulzeit über nichts, nur die Muster änderten sich und wurden mit den Jahren immer ausgefallener. Ich malte nachdenkliche Gesichter mit großen Nasen und noch größeren Nasenlöchern, die wie Tore aussahen: Tore in eine andere, zahlenlose Welt. Ich fand heraus, dass sich die Ziffer Zwei binnen Sekunden in einen Schwan verwandeln lässt und man mit dem Stift etwa siebenunddreißig Mal auf einer Acht herumfahren muss, bis ein Loch im Papier entsteht. Ich verstand irgendwann, dass man eigentlich alles teilen kann. Und zwar nicht nur das Pausenbrot mit seinen Freunden, die Klamotten mit seiner Schwester und einen Apfel mit einem Messer in zwei Hälften, nein, sogar Länder, Städte und Atomkerne konnten geteilt werden, wobei der Sinn der drei zuletzt genannten Teilungen mir schon damals fragwürdig erschien. Aber dieses Unverständnis in Bezug aufs Teilen war nichts Neues für mich und erinnerte mich nur einmal mehr an die Schwäne und die Nasen und die Nasenlöcher in meinem Heft. Insofern war alles in bester Ordnung und passte zusammen. Teilen war seltsam. Punkt. Mein Pausenbrot aß ich fortan lieber allein.
Mittlerweile habe ich ein uneingeschränkt positives Verhältnis zum Teilen, teile mein Wohnzimmer mit vielen Büchern, meine Erfahrungen in Texten und meine Texte mit Lesern. Manchmal kommt es vor, dass Menschen etwas mit mir teilen: Letzten Donnerstag im Bus von A nach B saß eine Armlänge von mir entfernt ein kleiner Junge, der zwei Bonbons in der Hand hielt. Mit einem Lächeln in im Gesicht streckte er mir seine bebonbonte Hand entgegen und artikulierte dabei etwas, was ich erst nicht verstand, dann aber doch: „Karamell oder Multivitamin. Such dir aus, was du lieber haben möchtest“, bedeutenden seine Worte. Als Kind war ich der festen Überzeugung: Erwachsene, die Kindern ihre Süßigkeiten wegessen, sind so ziemlich das Letzte und Hinterhältigste, was es auf der Welt gibt. Nie im Leben wollte ich später so werden wie sie. Also sah ich nun keine andere Möglichkeit, als das Angebot des Jungen dankend abzulehnen. Keine Chance. Er bestand darauf. Von dem Multivitaminbonbon, für das ich mich schließlich entschieden hatte, klebten die letzten Reste noch lange an meinen Backenzähnen. Da begriff ich zum ersten Mal, dass Teilen nicht nur etwas sehr Schönes, sondern auch etwas sehr Nachhaltiges sein kann. Das hatte ich gerade im eigenen Mund erfahren.