Tabea Michel arbeitet seit 2013 ehrenamtlich bei uns. Zunächst als Jurymitglied eines Schreibwettbewerbs für Jugendliche, dann als Mitredakteurin unseres Kiezkochbuchs Friedrichshain kocht und schließlich als Vorleserin für Kinder in unserem Laden in der Wühlischstraße. In ihrer Kolumne „Tabeas Textetunnel“ präsentiert sie uns ihre ganz persönliche Sicht auf die Welt: mit einem Augenzwinkern und garantiert ohne Tunnelblick. Wir wünschen Euch viel Freude beim Hindurchfahren!

Die Wette
Ein Bekannter namens Gerd, wie ich Übersetzer im Hauptberuf, rief mich neulich morgens an. „Gut geschlafen?“, fragte er. „Geht“, sagte ich ein wenig maulfaul, denn eigentlich war ich noch gar nicht wach.
„Gestern gab’s Gedichtübersetzungsanfragen: Großauftrag. Gutes Geld“, eröffnete er das Gespräch.
„Grandios!“, rief ich und vermutete, dass er mich wohl für eine Mitarbeit an diesem Projekt gewinnen wollte. Doch ehe er mir Weiteres dazu erklären konnte, sagte ich: „Ist dir eigentlich aufgefallen, dass unsere gesamte Unterhaltung bisher nur aus Wörtern bestand, die mit G anfangen?“
„Du hast recht“, sagte er amüsiert.
„Bestimmt kann man einen ganzen Tag lang nur in Wörtern mit G kommunizieren und bekommt trotzdem alles, was man will“, überlegte ich laut.
„Glaub ich nicht“, sagte er.
„Ich schon!“, erwiderte ich kämpferisch. „Ich glaube, dass ich das kann.“
„Na, wenn du meinst!“, lachte Gerd. „Dir ist ja so einiges zuzutrauen.“
„Um was wetten wir?“, fragte ich.
„Götterspeise grün, Gurkensalat, Glückskekse, Griebenschmalzstullen, Glenfiddich-Gläser, Gästehandtücher, Geschirrspülmittel, Gin… Such dir was aus“, schlug Gerd vor.
„Blödsinn!“, entgegnete ich. „Wir wetten um was Richtiges.“
„Hä? Was denn Richtiges?“, meinte Gerd.
„Wir wetten um das Honorar der Gedichtübersetzungen, von denen ich dir aus Zeitgründen einige abnehmen soll“, verkündete ich feierlich.
„Woher weißt du…?“, stotterte er verlegen.
„Ach komm!“, unterbrach ich ihn. „Ich kenn dich doch! Sonst hättest du mich nie im Leben so früh am Morgen angerufen!“
„Stimmt!“, sagte er. Und dann: „Okay, abgemacht! Aber nur, wenn ich dich einen ganzen Tag lang begleiten darf bei allem, was du so machst. Ich muss schließlich sichergehen, dass du nicht schummelst.“
„Einverstanden!“, entgegnete ich. Und so verabredeten wir uns in einer halben Stunde an der Bushaltestelle bei mir in der Straße, um gemeinsam einkaufen zu fahren.
„Entschuldigung, wissen Sie zufällig, wann der Bus kommt?“, fragte mich eine Dame mittleren Alters, kaum dass wir im Wartehäuschen Platz genommen hatten.
Gerd sah mich erwartungsvoll an.
„Gleich!“, entgegnete ich bestimmt, aber freundlich. Eins zu null für mich. Und ich hatte noch nicht einmal gelogen. Der Bus bog wirklich gerade um die Ecke. „Glück gehabt!“, murmelte ich beim Einsteigen, und Gerd nickte. Den Rest der Fahrt schwiegen wir und auch beim Einkaufen sagte ich nur einmal freudig „Guck!“ zu Gerd und deutete dabei auf ein Edelstahlkochtopfset, das gerade im Angebot war. Sonst sagte ich nichts, bis die Kassiererin mich, nachdem sie alle Artikel brav übers Band befördert hatte, fragte, ob ich Treueherzen sammeln würde.
„Gerne!“, flötete ich nonchalant, nahm die Aufkleber entgegen und fing sogleich an, Gerds Arm damit zu dekorieren. Das hat er nun davon, wenn er mich zum Lügen bringt, dachte ich.
Plötzlich merkte ich, dass ich Durst hatte. Und Hunger. Großen Hunger! Ich wollte beim Chinesen an der Ecke einkehren. Also sagte ich zu Gerd: „Große Glutamatmampfgelüste!“ Gerd schien zu verstehen. „Alles klar, ich hab auch Lust auf Chinesisch. Komm, ich lad dich ein.“
„Gracias, Gerdido!“, sagte ich.
Er sah mich strafend an: „Sprache wechseln gilt nicht, verstanden?“
Ich nickte schuldbewusst und fing erst wieder an zu sprechen, als wir im Lokal saßen und der Kellner unsere Bestellwünsche erfragte. „Glasnudeln, gebratenes Gemüse, Garnelenspieße, Guavensaftschorle, groß.“ Meine Antwort kam wie aus der Pistole geschossen und ich fühlte mich so lange sicher, bis Gerd mich nach meinen Urlaubsplänen für nächstes Jahr fragte. Guantanamo war der erste Ort, der mir einfiel. Als ich ihn hervorbrachte, erntete ich erneut einen vernichtenden Blick. „Granada“, log ich im Zweitversuch, gefolgt von „Galapagos-Inseln“ und „Großbritannien“. „Gebirge. Gewässer. Großartig!“, setzte rasch ich hinzu.
„Schon besser“, machte Gerd. Wir aßen schweigend zu Ende, während ich mir im Kopf mögliche Antworten auf mögliche Fragen zurechtlegte. Sollte er zum Beispiel wissen wollen, was mein einschneidendstes Erlebnis 2017 gewesen ist, hätte ich die Wahl zwischen „Großmutters Glaukom“ oder „Gunter Gabriels Genickbruch“, überlegte ich. „Gebärdensprachdolmetscherkurs“ ginge auch noch. Oder „Gitarrenunterricht.“ Oder… Die sich mit unüberhörbarem Klingeling öffnende Eingangstür des Lokals riss mich jäh aus meinen Gedanken. Im Stimmengewirr der eintretenden Gäste, die ich zunächst nicht sah, weil ich mit dem Rücken zur Tür saß, konnte ich sofort ein schönes, vertrautes Alt ausmachen. Es klang wie das meiner Freundin Jana. Und tatsächlich: Jana war, wie mir ein Blick gen Eingang verriet, offenbar hergekommen, um mit einigen Kollegen hier ihre Mittagspause zu verbringen.
„Tabea!!!“, rief sie freudig, als sie mich sah.
„Gudrun!!!“, trompetete ich zurück und lächelte Jana entschuldigend an. Sie blickte erst fragend zu mir und dann zu Gerd, ohne dabei einen Ton herauszubringen.
„Ich gebe mich geschlagen“, raunte ich Gerd zu. „Mit Jana nur in G-Worten zu reden, bringe ich nicht übers Herz.“
„Besser isses!“, bemerkte Gerd trocken. So also sehen Sieger aus, dachte ich, als ich in seine funkelnden Augen schaute.