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Ein Gaul-Tier namens Jean-Paul: über das (Ver-) Lesen

Was tun wir, wenn wir lesen? Wir erfassen schriftlich niedergelegte Inhalte mit unserem Verstand. Das kann – abhängig von der Art des zu erfassenden Inhalts – informativ sein, schockierend, lustig oder ärgerlich. So weit, so einfach. Manchmal scheint unser Verstand aber schlicht keine Lust zu haben, uns das zu präsentieren, was da tatsächlich steht, sondern lieber das, was er gerne hätte. Bei mir ist das jedenfalls so. Und wirklich verübeln kann ich es ihm nicht. Im Gegenteil: Ich freue mich immer, wenn er ein bisschen mit mir spielt. Das bringt Abwechslung in den Alltag.

Neulich zum Beispiel fuhren mein Verstand und ich einkaufen. Nicht in einen kleinen Supermarkt, sondern in eine dieser riesigen Hallen mit unzähligen Gängen, wo offenbar nur besondere Raucher hingehen. Das zumindest verriet das Schild am Eingang: VERB-RAUCHER-MARKT stand da in riesigen Lettern. Und was fand ich dort? Naives Olivenöl, kaltgepresst. Recht hast du, mein lieber Verstand, ging es mir durch den Kopf. Dieses Öl muss wirklich naiv sein. Oder welche Eigenschaft sonst könnte dazu führen, dass man erst abgefüllt und dann verkauft wird?

In meinem Bekanntenkreis gibt es einen jungen Mann namens Mirko, der sehr vielseitig begabt ist. Was ich bislang nicht wusste: Mirko ist Erfinder. Nach ihm sind Fasern benannt, die zum Beispiel in der Herstellung von Bettwäsche Verwendung finden. Der sogenannten Mirkofaserbettwäsche. Ich habe zwar noch nicht in ihr gelegen, aber bestimmt hat man darin sehr besondere Träume. Vom Bade-Wesen etwa, das wahrscheinlich in einer gerade frisch eingelassen Wanne vor sich hindümpelt und die zugesetzten ätherischen Öle durch seine überdimensionalen Nüstern inhaliert. Oder vom Gaul-Tier. Das wiederum, so verrät eine Reklame in der U-Bahn, heißt mit Vornamen Jean-Paul und hat die Kostüme für eine Show geschneidert, die gerade im Friedrichstadt-Palast zu sehen ist. Ja, und der Meerrettich heißt Meerrettich, weil er im Ozean schwimmt. Noch Fragen?

Neulich zeigte mir jemand ein Foto von der Angebotstafel eines Restaurants: „Gefüllte Oberschienen mit Reis“ stand dort. Handschriftlich. Grüne Tafel, Weiße Kreide. Ich sah noch einmal hin. Und noch einmal. Der Text stand immer noch genauso da. Verlesen hatte ich mich also offenbar nicht. Aber der Verfasser sich verschrieben. Hoffentlich. Alles andere wäre verdammt hart. Zumindest für die Zähne des Gastes, der das Gericht bestellt.

Tabea Michel arbeitet seit 2013 ehrenamtlich bei uns. Zunächst als Jurymitglied eines Schreibwettbewerbs für Jugendliche, dann als Mitredakteurin unseres Kiezkochbuchs Friedrichshain kocht und schließlich als Vorleserin für Kinder in unserem Laden in der Wühlischstraße. In ihrer Kolumne „Tabes Textetunnel“ präsentiert sie uns Woche für Woche ihre ganz persönliche Sicht auf die Welt: heiter, mit einem Augenzwinkern und garantiert ohne Tunnelblick. Wir wünschen Euch viel Freude beim Hindurchfahren!

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