Tabea Michel arbeitet seit 2013 ehrenamtlich bei uns. Zunächst als Jurymitglied eines Schreibwettbewerbs für Jugendliche, dann als Mitredakteurin unseres Kiezkochbuchs Friedrichshain kocht und schließlich als Vorleserin für Kinder in unserem Laden in der Wühlischstraße. Seit heute  schreibt sie hier unter dem Namen Tabeas Textetunnel eine eigene Kolumne, in der sie uns Woche für Woche ihre ganz persönliche Sicht auf die Welt präsentiert: heiter, mit einem Augenzwinkern und garantiert ohne Tunnelblick. Wir wünschen Euch viel Freude beim Hindurchfahren!

Foto: Michal Jarmoluk
Foto: Michal Jarmoluk

Beim Zahnarzt

Ich kenne Menschen, die so große Angst vorm Zahnarzt haben, dass sie irgendwann sogar die halbjährlich verordneten Routineuntersuchungen nicht mehr wahrnehmen konnten.

„Ich geh da nicht hin!“, riefen sie panisch. „Was ist, wenn er plötzlich doch wieder was findet und anfängt zu bohren?“ Zahnärzte, so lautet die vorherrschende Meinung in diesen Kreisen, finden immer etwas, schon allein, weil es ihr Beruf ist, etwas zu finden. Und diesen Beruf wollen sie, so wie jeder, der sein Fach aus Überzeugung gewählt hat, auch unbedingt ausüben, und zwar gründlich. Lieber einmal mehr gebohrt als einmal zu wenig! Jawohl! Wie, Sie haben keine Löcher in den Zähnen? Ist nicht schlimm. Das lässt sich rasch ändern. Das nötige Werkzeug hierfür habe ich da: Schauen Sie mal. Na los! Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Und selbst wenn da keiner ist, dann bahne ich  mir eben einen. Gerne auch direkt durch Ihren Wurzelkanal…

Odontophobie nennt der Fachmann das: die Angst vor Zahnarztbesuchen. In der westlichen Welt sind schätzungsweise 5-10% der Bevölkerung davon betroffen, heißt es.

Ich gehöre nicht dazu. Im Gegenteil, ich würde mich als odontophil bezeichnen, wenn es dieses Wort überhaupt gibt. Und wenn nicht, dann würde ich es erfinden: für mich. Und für Sabine.  Um  mein Verhältnis zu ihr adäquat beschreiben zu können. Sabine hat eine schöne neue Praxis mit schönem neuen Fußboden. Auf dem Tresen am Empfang steht immer ein üppiger Blumenstrauß. Statt der hässlichen elfenbeinfarbenen Gummihandschuhe trägt man hier Neonpink an den Händen,  passend zu den  Plastikbechern, die einem zum Ausspülen gereicht werden. Die  Angestellten sind immer gut gelaunt und entspannt, auch wenn man kurz vor Feierabend kommt. Stress ist in diesen Räumen ein Fremdwort. Grundsätzlich wird man hier mit „Du“ und Vornamen angesprochen.  Ein Gefühl von IKEA kommt auf – und manchmal, wenn das Wetter draußen schön ist, auch das eines Sommerurlaubs in Schweden. Überhaupt sieht Sabine so aus, wie man sich klassischerweise eine Schwedin vorstellen könnte: groß, lange blonde Haare, blaue Augen, sympathische Grübchen an den Wangen, athletische Figur. Wüsste ich es nicht besser, würde ich denken, sie entstamme einem Katalog für Sport-und Freizeitmode.

„Komm rein“, sagt sie zu mir.

Wie gerne würde ich jetzt ein Gespräch mit  ihr anfangen, denke ich. Und zwar nicht nur eins über meine Zähne oder über das Wetter, sondern über etwas Bedeutendes: den ersten Kuss, die erste eigene Wohnung,  das erste Mal eigenes Geld verdienen – irgendein einschneidendes Erlebnis eben.

Aber ich kann ja nicht reden, während ich gleichzeitig den Mund offenlasse, damit sie ihrer Arbeit nachgehen kann. Oder vielleicht doch? Mutig geworden, versuche ich mich in die laufende Unterhaltung zwischen ihr und der Zahnarzthelferin einzuschalten, die um die Vorzüge von Himbeerkuchen kreist.

„Ihangahuhee!“, sage ich inbrünstig.

„Na, willst du mir sagen, dass du Himbeerkuchen auch sehr gern magst?“, fragt Sabine lachend.

Und dann: „Lass mal schön den Mund auf, du!“

Okay, das hat nicht funktioniert, denke ich.

 

Das nächste Mal sehe ich Sabine in zwei Wochen. Da werde ich sie gleich fragen, ob wir mal ein Stück Himbeerkuchen essen gehen wollen. Nur sie und ich. Ohne Besteck im Mund.