
Jenny Schons neuer, wohl auch autobiographischer, Roman „1967 Wespenzeit“ spielt im Westberlin des Jahres 1967. Er berichtet über die junge Ich-Erzählerin und Mao-Anhängerin Gunda Lux, das Leben und die Geschehnisse im Westberlin jener Zeit. Gunda nimmt nicht nur an Aktionen und Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg teil, sondern hat auch in ihrem eigenen Leben verschiedene Herausforderungen zu meistern: Auseinandersetzungen mit ihrem Chef oder ihrem (noch) Ehemann, den Aufbau eines eigenen Lebens (einschließlich nachgemachtem Abitur) und Liebeskummer wegen ihres Schwarms aus dem SDS, dem sie den Namen „Jett Rink“ (nach einer der Filmfiguren von James Dean) gibt. All das gelingt ihr auf beeindruckende Weise. Sie hält unbeirrt an ihren Zielen fest und emanzipiert sich – obwohl schon sehr selbständig und „unerschrocken“ – im Laufe des Romans noch weiter von vielen (oft männlichen) Einflüssen um sie herum. Als Leser kann man so nachvollziehen, welche Einstellungen allgemein vorherrschten, von denen sich teilweise auch Gunda Lux zuerst befreien muss.
Zitieren möchte ich hier den Kommentar des Buchrückens von Else Landau, der auch meinem Eindruck des Buches entspricht:
„‘1967 Wespenzeit‘ ist eine literarische, schön eigenwillige Milieu- und Zeitstudie. Der Roman ist sprachlich stark. Die absichtsvolle Fragmentierung durch stimmungsreiche Szenarienwechsel erzeugt ein lebhaftes, sehr sinnliches Kaleidoskop aus kraftvollen Bildern, die ein Stück Zeitgeschichte aufarbeiten, ohne zu moralisieren. Für Lesende, die die Bewegung nur aus Reportagen und TV-Dokumentation kennen, werden die Geschehnisse und Personen der 68er lebendig, die vitale und angenehm unkonventionelle Sprache zieht sofort in den Bann.“
Tatsächlich fand ich auch, dass man über die Hauptperson in diese Zeit hineinversetzt wird. Durch ihre Gedanken, Gespräche und Zeitungsausschnitte oder Briefe entsteht ein viel anschaulicheres Bild, als dies durch die reine Wiedergabe von historischen Fakten möglich wäre. Einiges wird erklärt oder zitiert, etwa aus Flugblättern der Kommune 1. Anderes wird wiederum nur angedeutet und erfordert Vorwissen, z. B. wenn manche Akteure der 68er nur beim Vornamen genannt werden wie Rudi Dutschke. Auch wenn ich selbst an der ein oder anderen Stelle online (peinliche) Wissenslücken schließen musste, fand ich den Roman dennoch sehr informativ, ohne bemüht oder belehrend zu wirken.
Im Mittelpunkt des Romans stehen Gunda Lux und ihre verschiedenen privaten Herausforderungen. Hierdurch ist das Buch spannend, weil man mitfiebert, wie etwa die Auseinandersetzung mit dem (vormaligen) Chef ausgeht oder ob und wie sich eine Liebesgeschichte mit „Jett“ entwickelt. Sehr anschaulich dargestellt ist dadurch außerdem der damalige Wunsch nach mehr Selbstbestimmung, nach Veränderung, nach Selbstverwirklichung und das Hinterfragen bestehender Verhältnisse. Deutlich wird, dass sowohl Selbsteinsicht als auch Beharrlichkeit nötig war (und ist).
Besonders gefallen hat mir auch, wie die Autorin ihre Meinung preisgibt. Unaufdringlich und dennoch eindrücklich und differenziert. Es ist aus meiner Sicht ein sehr feministischer Roman, der durchaus kämpferisch ist ohne aggressiv zu sein. Gunda Lux entscheidet selbstbestimmt was sie will, und hält dann unbeirrt – trotz aller Hindernisse – daran fest. Sie ist für ihr eigenes Leben nicht bereit, Dinge hinzunehmen, die sie nicht akzeptieren kann. Und bereit, dafür etwas zu riskieren. Anderen bietet sie zwar ihre Hilfe an, drängt sich aber nicht auf, wenn die Betroffenen anderer Ansicht sind oder es bevorzugen, untätig zu bleiben. Sie setzt sich mit unterschiedlichen Meinungen auseinander, übernimmt sie aber nicht blind oder plappert sie gar (unverstanden) einfach nur nach. Sie kommt zu dem Schluss, dass Manches einfach zu abgehoben formuliert ist und wendet sich lieber Texten zu, zu denen sie tatsächlich einen Zugang findet.
Empfehlen kann ich das Buch gerade denjenigen, die – wie ich – nicht sehr viel über diese Zeit wissen und keine großen Sachbuchleser sind. Ganz sicher werden aber auch diejenigen, die viel darüber wissen oder die Zeit selbst miterlebt haben, die Lektüre genießen, schon weil der Roman viele – teilweise ironische – Anspielungen enthält. Für meinen Teil werde ich den Roman ein zweites Mal lesen, um die Facetten wahrzunehmen, die mir beim ersten Lesen entgangen sind.
Die Lesung zu „1967 Wespenzeit“ mit Jenny Schon findet am 29. September 2015 um 20:15 Uhr am Berliner Büchertisch (Mehringdamm 51, 2. Hinterhof) statt.