Naprushkina_Neue Heimat_300dpi Marina Naprushkina © public domain

Am 12.11.2015 liest Marina Naprushkina bei uns aus ihrem Buch „Neue Heimat“. Unsere ehrenamtliche Mitarbeiterin Melanie hat das Buch für euch rezensiert:

Marina Naprushkina ist Künstlerin und Gründerin der Initiative Neue Nachbarschaft Moabit. In ihrem Buch „Neue Heimat?“ beschreibt sie den Alltag von Flüchtlingen in Berlin und die Entstehung der Nachbarschaftsiniative.
Erwartet hatte ich eine so etwas wie ein Sachbuch, tatsächlich ist das Buch eine Art Tagebuch über einen Zeitraum von etwa 1,5 Jahren. Es beschreibt Begegnungen mit geflüchteten Menschen und eigene Bemühungen zur Unterstützung bei verschiedenen typischen Alltagsproblemen, mit Ärzten, Ämtern, Schulen oder bei der Unterbringung. Ausgehend von ersten Aktivitäten – Mal- oder Filmnachmittage mit den Kindern einer Flüchtlingsunterkunft – wächst so langsam eine Nachbarschaftsinitiative in eigenen Räumen heran, die unterstützt und vor allem soziale Kontakte in der Nachbarschaft ermöglicht.

Ich war sehr schnell von dem Buch gefesselt und habe es fast in einem Stück durchgelesen. Durch kurze Kapitel, eine sehr klare Sprache mit einfachen Sätzen und einem „nüchternen“ (also nicht rührseligen) und dennoch sehr mitfühlenden Stil liest sich der Roman sehr gut. Die einzelnen Kapitel sind Momentaufnahmen verschiedener Situationen oder Gespräche: Arztbesuche, Amtsgänge, Auseinandersetzungen mit der Heimleitung, Begleitung zum Anwaltstermin, nächtliche Anrufe mit der Bitte um Hilfe oder kurze Unterhaltungen. Einerseits steht dabei jedes Kapitel für sich, andererseits sind sie durch die Geschichte verschiedener „Hauptpersonen“ miteinander verbunden. Durch diesen roten Faden bleibt das Buch spannend, wobei die Auflockerung durch andere kleine Erlebnisse das Bild vervollständigt und verhindert, dass man die jeweilige Situation nur als Einzelschicksal oder bedauerliche Ausnahme wahrnimmt. Es ist weder die Schilderung der Lebensumstände eines letztlich anonymen Kollektives („die Flüchtlinge“/“die Asylbewerber“) noch die reine Aneinanderreihung einzelner, konkreter Lebensgeschichten. Marina Naprushkina gelingt es vielmehr, durch eine gute Mischung aus Einzelbeispiele und allgemeinen Beobachtungen, anschaulich gewisse Muster erkennbar zu machen und ganz grundsätzliche Strukturen beziehungsweise Abläufe zu hinterfragen. Dabei wirkt sie nie belehrend. Denn trotz eigener Bewertungen belässt sie es an vielen Stellen bei einer sachlichen Schilderung und lässt so viel Raum für die eigene Meinungsbildung. Die Autorin beschreibt zwar ihr eigenes solidarisches Menschenbild, den Anspruch an sich selbst und ihre Vorstellung vom gesellschaftlichen Miteinander, sie versucht aber nicht, dem Leser diese Ansichten aufzuzwingen oder sie als moralisch überlegen darzustellen.

Sehr gut hat mir gefallen, dass „Neue Heimat?“ ohne Betroffenheitsrhetorik, leere „Gutmenschen-Floskeln“ oder Sozialkitsch auskommt. Es enthält keine schönen Reden oder große Worte, sondern konkrete Taten oder Beobachtungen. Das Buch verzichtet weitgehend darauf, einzelne Flucht- oder Verfolgungsgeschichten zu erzählen. Und wenn doch, dann weil sie für die geschilderte Beratung beim Anwalt relevant sind oder die Angst vor einer drohenden Abschiebung verständlich machen. Nicht (oder nur am Rande), weshalb und wie sie ihr Land verlassen haben oder welche Lebensbedingungen in ihrem Herkunftsland herrschen. Keines der Beispiele des Buches fällt in die „Modethemen“ der aktuellen Medienberichte und Debatten: keine dramatischen Überquerungen des Mittelmeers, keine Flucht aus Syrien, kein Heraufbeschwören von IS, Hinrichtungen oder Entführungen. Nicht das Warum oder Ob der Aufnahme in Deutschland ist Thema, sondern das Wie, ohne „Ablenkung“ durch den Leidensweg bis zur Einreise.

Sehr klar konzentriert sich „Neue Heimat?“ damit auf die Lebensbedingungen in Deutschland von Menschen, die ihr Land verlassen haben und sich hier Zuflucht und einen Neuanfang erhoffen. Im Mittelpunkt steht wie „Deutschland“ diese Menschen behandelt, ganz konkret am Berliner Beispiel. Dadurch geht es sehr viel deutlicher auch um eigene gesellschaftliche Verantwortung, Solidarität und Menschlichkeit , weil ein sehr lokaler Bezug besteht. Der entschuldigende Fingerzeig ins Ausland, zu den Ursprungsländern, zu den Ländern der EU-Außengrenzen oder zu Schleppern ist nicht möglich. Weil auch latenter Rassismus oder sonstige Schwierigkeiten außerhalb der Auseinandersetzung mit den Behörden angesprochen werden (z.B. der Zugang zu Ärzten, Krankenhäusern, Schulen, Sportvereinen), kann man sich als Leser auch nicht nur auf ein bequemes „die Politik/die Regierung/der Gesetzgeber müsste…“ zurückziehen.

Was Einzelne bzw. Initiativen dabei konkret leisten können, zeigt sich in der allmählichen Entstehung der Nachbarschaftsinitiative. Vieles wird im Grunde mit einfachen Mitteln erreicht, ist für sich genommen „keine große Sache“, wie die Begleitung zu Terminen bei Arzt, Anwalt oder zu Behörden zur Übersetzung, Malstunden mit den Kindern. Aber auch hier wird nichts verklärt oder verschönert, kein „Samariterkitsch“ nach dem Motto: es ist alles ganz einfach, alle sind glücklich, alle sind dankbar, alles ist gut. Denn neben Erfolgserlebnissen, gibt es auch Rückschläge und Schwierigkeiten: Material, das nach einer Woche Abwesenheit verschwunden ist, aus Handtaschen gestohlenes Geld, Überforderung mit den vielen Kindern, das Ausbleiben einer erhofften Unterstützung, organisatorische Herausforderungen bei sehr kurzfristigen Bitten um Hilfe, Anrufe zu jeder Tages- und Nachtzeit und die Zeit, die trotz vieler Mitstreiter, nie zu reichen scheint. Tatsächlich können Marina Naprushkina und ihre Mitstreiter schon mit einfachen Mitteln und dank zunehmender Unterstützung durch viele Helfer einiges bewirken. Es ist aber oft genug viel Arbeit, die einiges an Organisation, Kraft, Hartnäckigkeit, Engagement und Zeit erfordert. Beim Lesen war ich meinerseits immer wieder beeindruckt von der Ausdauer und dem Engagement der Autorin und ihrer Mithelfer.

Zusammenfassend würde ich sagen, dass mir das Buch vor allem deswegen sehr gut gefallen hat, weil es einerseits klar und nüchtern verfasst ist, andererseits aber trotzdem (oder gerade deswegen) von tiefer Menschlichkeit zeugt. Außerdem zeigt es ein sehr differenziertes Bild und zwar in alle Richtungen, kein Schwarz-Weiß-Bild nach dem Muster „Böse Behörden / arme Flüchtlinge“ (natürlich auch nicht in die anderen Richtung). Letztlich geht es vor allem um das soziale Miteinander, um gesellschaftliche Solidarität bereits auf lokaler, nachbarschaftlicher Ebene und damit um ganz grundsätzliche Fragen jenseits von Asylrecht oder Einwanderung.