Eine Rezension unseres Kunden Tobias:

u1_978-3-10-080049-7Nabokovs Traum

Nach seinen Romanen Flüchtig (2010) und Strategie (2004) legt der britische Literatur-Shootingstar sein neuestes Werk vor: Der multiple Roman. Es ist zugleich eine Huldigung an eine literarische Gattung, ein verworrener Ritt durch 300 Jahre Literaturgeschichte und der Versuch, ein altbekanntes Problem zu lösen.

Bereits der Titel lässt vermuten, dass Thirlwell mit Der multiple Roman eben keinen dritten Roman geschrieben hat, sondern vielmehr ein (pseudo-)literaturwissenschaftliches Enkomion auf den Roman selbst. Das Problem, dem er sich stellt, ist ein vieldiskutiertes: In welchem Verhältnis steht eine Übersetzung eines Romans zum Original? Handelt es sich um eine Kopie, im strengen Sinne des Wortes, oder ist es ein eigenständiges Werk, also wiederum ein Original? Was, so kann man fragen, liest ein Leser, wenn er eine deutschsprachige Ausgabe von Hemingways „The sun also rises“ liest?

Adam Thirlwells Lösung ist elegant: „Die perfekteste Übersetzung [eines Textes, T.W.] hat auf der einen Seite genau die gleiche Größe wie das Original, das es imitiert, ist aber gleichzeitig eine völlig andere Sache – so, als imitierte man die exakten Maße von Michelangelos David und stellte ihn dann aus Wackelpudding her.“ (10). Setzt man die klassischen Begriffe von Form und Inhalt an, so sind Übersetzungen der Form nach mit ihren Originalen identisch: Sie haben in etwa die gleiche Seitenanzahl, sie sind aus dem gleichen Material geschaffen etc. Hinsichtlich des Inhaltes ist das jedoch nicht so eindeutig. Wird der Wert einer Übersetzung anhand der gelungenen oder missratenen sprachlichen Übertragung von Worten und Sätzen beurteilt, so sind Übersetzungen kaum möglich. Wilhelm von Humboldts These scheint hier durch, wonach sich in den verschiedenen Sprachen auch verschiedene Weltansichten widerspiegeln. Eine Übersetzung, im strengen Sinne einer 1 zu 1 Kopie ist demzufolge unmöglich.

Thirlwell schlägt als alternativen Maßstab vor, den Stil als Wertemaßstab für eine Übersetzung zu wählen. Der Stil erschöpft sich jedoch nicht in Worten und Sätzen, denn eine in Wort und Satz fehlerhafte Übersetzung, kann dennoch eine gelungene sein (vgl. 186). Es sind die Effekte, die durch den Stil verursacht werden, die kopiert werden müssen, um von einer adäquaten Übersetzung sprechen zu können (vgl. 45). Thirlwell schreckt nicht davor zurück, weitreichende Schlussfolgerungen aus seiner Theorie zu ziehen. Die gesamte Literaturgeschichte wird vor dem Hintergrund seiner Überlegungen in einen gänzlich neuen Zusammenhang dargestellt. Nun sind es nicht mehr nur Übersetzungen, die Multiple sind, sondern unterschiedliche Autoren mit unterschiedlichen Romanen, die möglicherweise nie etwas voneinander gewusst haben: So wird de Assis Die nachträglichen Memoiren des Brás Cubas zum Multiple von Diderots Jacques der Fatalist, das wiederum ein Multiple von Laurence Sternes Tristram Shandy ist. Alle drei Bücher sind sich im Stil und insbesondere der dadurch verursachten Effekte (Abschweifung, Verwirrung, Endlosigkeit) gleich und somit Wiederholungen. Im Gegensatz zu Wörtern und Sätzen, ist der Stil „international“ (48) und kann somit tatsächlich weltweit in mehreren Sprachen reproduziert werden.

So trocken formuliert Thirlwell seine Theorie nicht. Thirlwell ist verspielt. Seine Autoren- und Werkauswahl, die er zur Stützung seiner Thesen verwendet ist gigantisch. Mit seinen ausufernden literarischen Darstellungen läuft er allerdings ständig Gefahr, sein Ziel aus den Augen zu verlieren. Insbesondere, wenn er beginnt Anekdoten und biographische Details über Autoren aneinanderzureihen. So kann es durchaus vorkommen, dass man als Leser viele Seiten lang verdutzt, verwirrt und mit fragendem Blick den Ausführungen Thirlwells folgt, ohne zu verstehen, warum diese Schilderung von Becketts Lebensumständen und warum jener Exkurs über die Lektüre von Nabokov nun notwendig sein soll. Als Leser ist man bei der Lektüre hin und wieder hoffnungslos verloren.

Die Rekonstruktionen und Darstellungen lesen sich wie das Who is Who der Literaturhistorie. Es tauchen Namen auf wie Joyce, Kundera, Kafka, Cervantes, Flaubert und Stendhal auf. Brüder im Geiste sind dabei insbesondere Laurence Sterne und Vladimir Nabokov. Thirlwell setzt geradezu zu einem Kniefall vor Sternes verwirrenden Stil im Tristram Shandy an. Von der virtuosen Verwendung von Digression und Retardation lässt sich Thirlwell anstecken. So wirkt es beinahe wie eine Drohung, wenn er über seine anstehenden Pläne notiert: „Ja, die zukünftigen Romane, die mir vorschweben, sollen immer verworrenere, unordentliche Collagen sein.“ (459). Bereits mit Der multiple Roman lässt sich ein Eindruck davon gewinnen, was uns mit den folgenden Romanen Thirlwells erwartet.

Im Falle Nabokovs liegt die geistige Verwandtschaft darin, dass Nabokov der gleichen Frage nach dem Verhältnis von Original und Übersetzung nachging wie Thirlwell. Nabokov formulierte Zeit seines Lebens unterschiedliche Lösungen für das Übersetzungsproblem. Unglücklicherweise irrte Nabokov laut Thirlwell mit allen Vorschlägen, weshalb erst Thirlwell es vermag „Nabokovs Traum“ zu erfüllen.

Vervollständigt wird Der mutiple Roman durch einen rund 20-seitigen Anmerkungsapparat und drei Beispielmultiple, wobei der letzte der drei auf einer leeren Seite vom Leser selbst angefertigt werden muss. Adam Thirlwells Der multiple Roman ist sicherlich lesenswert, allerdings kann der Stil den Leser oftmals überfordern. Wer einen luzide geschriebenen und strukturierten Literaturaufsatz erwartet, wird enttäuscht werden, aber das hatte Thirlwell auch offenbar nicht im Sinn.

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Titel: Der multiple Roman
Autor: Adam Thirlwell

Übersetzerin: Hannah Arnold

Verlag: S. Fischer
Genre: Sachbuch
ISBN: 978-3-10-080049-7
Preis: 24,99 Euro

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