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Viel Spaß beim Lesen!

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Sabine Frambach: faustdick

Das Buch gähnte.
Es raschelte kaum merklich mit den Seiten, reckte den Einband und knarzte.
Das Buch knarzte nicht oft.
Genauer gesagt knarzte es zum dritten Mal, und das war für das Buch äußerst selten. Andere Bücher knarzten im Schnitt alle drei bis vier Tage. Aber das Buch war ein feines Buch: Bibeldünndruck, Lesebändchen und Goldprägung. Das Buch wusste, was sich gehörte. Und es gehörte sich nicht, einfach zu knarzen.

Wenn nur der Leser nicht so langweilig wäre! Verstohlen unterdrückte das Buch einen Seufzer. Es hatte viele aufregende Leser gehabt: ein junges Mädchen, redselige Trinker und Soldaten. Kürzlich hatte es ein Neugeborenes verspeist. Selbst ein Hund hatte einst seine Schnauze aus Versehen in das Buch gesteckt, geschnüffelt, gehechelt und geknurrt, als das Buch zubiss.
All diese Gestalten hatte das Buch verschlungen. Es wartete, bis die Leser vertieft waren; sodann schlug das Buch zu. Es riss die Buchdeckel weit auf und zerrte das Opfer in seinen Schlund hinein.
Ehe die Gestalten wussten, was geschah, fanden sie sich in der Geschichte wieder, gebannt auf die Seiten, gezwängt zwischen die Zeilen, geschubst von Wörtern, die sagten, was sie tun sollten. Manche der Gestalten zeterten, manche fluchten. Doch sie alle fügten sich schließlich in die Handlung ein.

Das Buch hätte gerne eine Amazone gehabt oder einen hübschen Mann. Stattdessen saß dieser langweilige Leser da. Das Buch konnte ihn genau sehen; seine unreine Haut, die von Weiß nach Rot wechselte; seine Augen, die durch eine wuchtige Brille schielten; sein borstiges Haar, dessen Farbe an einen nassen Hund erinnerte. Was sollte das Buch mit solch einer Figur nur anfangen? Es knarzte nochmals, nur, um seiner Enttäuschung angemessen Ausdruck zu verleihen. Doch der Leser war die einzige mögliche Figur weit und breit, und so raschelte es mit den Blättern, griff den Langeweiler und zerrte ihn hinein.

Der Leser riss die Augen auf, linste mal zur rechten, mal zur linken Seite, blubberte etwas, das entfernt an das Wort Hilfe erinnerte, und begann sodann zu strampeln. Zu spät, schon fiel er auf die ersten Seiten, stolperte über einige Wörter und verhedderte sich in einem langen Satz. »He! Was geschieht mit mir? Wo bin ich?«

Das Buch klappte zu. Es betrachtete den Langeweiler von oben bis unten. Wie gut, dass das Buch einige Adjektive hatte, die konnten die Figur ein wenig herrichten. Schon kamen sie angelaufen und machten aus ihm einen wackeren Burschen, edel und keck.

»So ist es besser«, flüsterte das Buch. »Nun rasch auf die Seite mit dir und lerne deinen Text«!
Der Langeweiler schnaubte. »Du kannst mich nicht zwingen!«
Ein Lachen erklang, stotternd wie das Gemecker einer Ziege. »Finde dich damit ab, du Würstchen! Du bist in mir und ich bestimme, was geschieht! Füge dich, und du wirst Teil der Geschichte. Wehre dich, und ich erfinde tausende Arten, wie du auf diesen Seiten stirbst. Ich häute dich, ich pfähle dich, ich koche aus dir eine gute Suppe!«
Da wurde er blass; senkte den Kopf, kroch durch die Seiten und gelangte auf das erste Blatt. Eine Weile betrachtete er das gotische Zimmer. Sodann nahm er auf dem Sessel Platz. Er saß unruhig, rutschte hin und her und betrachtete den Text. Mit leiser Stimme rezitierte er, was das Buch verlangte.
»Hab nun ach, die Philosophie, Medizin und Juristerei und leider auch die Theologie durchaus studiert mit heißer Müh. Da steh ich nun ich armer Thor und bin so klug als wie zuvor.«
»Na also«, kicherte das Buch. »Geht doch!«

Sabine Frambach ist 38, Sozialpädagogin, und lebt in Mönchengladbach.