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Viel Spaß beim Lesen!
Marion Brüning: Tränen lügen nicht
DIE SEELE HÄTTE KEINEN REGENBOGEN,WENN DIE AUGEN NICHT WEINEN KÖNNTEN. Indianische Weisheit
Das Buch liegt schwer in seiner Hand, aber er hält es eisern fest.
„Ob mich wohl ein Engel abholen wird?“
Auf diese Frage möchte er seinem Freund so vieles antworten. Aber er kann nicht. Er versucht zu lächeln, aber Kai hebt die Hand, bevor auch nur eine falsche Silbe seinen Mund verlassen kann. „Nicht du auch noch!“, sagt er. Dann überfällt ihn ein Hustenanfall.
Ingo wartet. Bis der beißende Husten verebbt und Kais Atmung sich wieder der Ausgeglichenheit in seinen Augen angepasst hat.
Wie kann er so ruhig sein?, fragt er sich und schaut verlegen zu Boden. Mit seiner Schuhspitze schiebt er einen imaginären Fussel auf die Seite, so, als könnte er die geforderte Antwort einfach von sich wegschieben. Unter großer Anstrengung setzt sich Kai im Bett auf und lässt dann den Kopf in die Kissen fallen.
„Danke für das Buch. Aber ich werde es wohl nicht mehr schaffen zu lesen.“
Ingo schluckt.
Was soll er darauf sagen?
„Bitte rede mit mir!“
„Ich rede doch mit dir!“
Schweigen!
„Bitte, Ingo. Lass mich mit dir wenigstens das bereden, was in meinem Kopf sitzt und was ich vor keinem aussprechen darf.“
Ich kann das nicht, denkt er. Er spürt, wie der Kloß sich in seinem Hals festsetzt. Dann nickt er und merkt, wie Tränen in seinen Augen brennen, bis er es nicht mehr aushält und blinzeln muss.
Die salzige Flüssigkeit läuft aus seinen Augenwinkeln, bahnt sich ihren Weg über die Wangen und fällt dann irgendwohin. Das Wohin ist ebenso unbedeutend wie die Aufgabe der Träne, den Bindehautsack zu reinigen und die Hornhaut zu ernähren und zu befeuchten. Ebenso unbedeutend, wie es ist, dass die Tränenproduktion durch Reize wie Fremdkörper im Auge oder durch Kälte zunimmt. Und dass auch das Weinen solch ein Reiz ist.
Tränen lügen nicht!
Das hat er in kurzer Zeit gelernt. Sie sind die Sprache seiner Seele. Sie sind das, was ihn im Moment am meisten mit Kai verbindet. Er legt seinen Kopf auf den Arm seines Freundes, und als er Kais Hand auf seinem Haar spürt, weint er noch mehr.
Der Schmerz vibriert unter seiner Haut! Er kann sich nicht vorstellen, ihn je wieder abschütteln zu können.
„Sollen wir über deinen Tod reden?“, fragt er schließlich.
„Danke!“, sagt Kai und hustet. „Du bist der Erste, der es ausspricht. Ich merke, dass das Ende kommt, aber alle tun so, als ob ich morgen wieder gesund aufwachen würde. Dabei würde ich mich lieber bei allen bedanken, für die schöne Zeit …“
„Hast du keine Angst?“, fragt Ingo erstaunt.
„Am Anfang schon. Jetzt nicht mehr.“ Tränen laufen aus Kais Augen, und plötzlich lacht er. „Weißt du noch, wie wir früher Indianer gespielt haben?“
„Und meine Schwester am Stuhl festgebunden haben?“
„Mann, war die sauer!“
Die Freunde lachen, dann weinen sie.
„Wenn ich tot bin, möchte ich gerne, dass du immer lachst, wenn du an mich denkst. Unsere gemeinsame Kindheit war so lustig. Versprichst du mir das?“
„Was?“
„Dass du immer lachst, wenn du an mich denkst?“
Ingo nickt.
Stille.
„Am schlimmsten ist dieser Zwiespalt: Ich möchte, dass ihr mich schnell vergesst, um nicht mehr traurig zu sein, aber zugleich halte ich den Gedanken kaum aus, dass ihr mich vergesst. Wie dumm von mir, oder?“
Ingo greift nach Kais Hand und drückt sie fest.
„Keine Sorge, mein Freund: Man vergisst nie den, mit dem man geweint hat!“
Marion Brüning wurde 1969 geboren. Nach der Geburt ihres dritten Kindes gab sie ihren Beruf in der Krankenpflege auf und widmet sich seitdem Haushalt, Hund und der Familie. Sie lebt und arbeitet als freie Autorin in Münster (Westfalen). Ihr Debütroman „Irgendwo im Dazwischen“, erschien im Januar 2013 im AAVAA Verlag.
Marion spricht mir aus der Seele und hat ein sehr schwieriges Thema behandelt – den Tod und die Frage nach danach…. Ingrid