Wir präsentieren: die 8. Gewinnergeschichte  unseres Kurzgeschichten-Wettbewerbs. Mach mit und wähle deinen Publikumsliebling aus den 11 Gewinnertexten:

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Viel Spaß beim Lesen!

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Jochen Hübbe: Die Frau mit dem roten Buch

Das Buch mit dem leuchtend roten Schutzumschlag zieht meinen Blick auf sich. Die Frau, die sich darin vertieft, sitzt mir schräg gegenüber in der S-Bahn. Das Abteil ist gut gefüllt. Die Großstadt spülte die Menschen in den Feierabend. Tablett-Computer und Smartphone werden gestreichelt. Ab und zu ein Klingelton, eilig weggedrückt. Unter den, vom Tagesstress gezeichneten Fahrgästen hat die Frau mit dem roten Buch eine besondere Ausstrahlung. Es ist nicht nur der rote Farbklecks in dem spärlich beleuchteten S-Bahnabteil, der meine Aufmerksamkeit hat, es ist auch ihr entspanntes Lächeln und die Freude in ihrem Gesicht, wenn sie die Buchseiten umblättert. Was liest sie? Ist es einer dieser ‚Herz-Schmerz-am-Ende-kriegen-sie-sich’ Romane? Nein, diese Art Literatur passt nicht zu ihr. Ein Thriller oder Krimi kann es nicht sein, dafür macht sie einen zu entspannten Eindruck. Es muss ein besonderes Buch sein. Ihr Lächeln deutet auf eine Lektüre mit feinsinnigem Humor hin. Ich werde es nie erfahren, es sei denn, ich frage sie einfach: „Entschuldigung, darf ich fragen, was sie gerade lesen?“ Ich glaube, das geht so nicht. Sie würde es bestimmt als plumpe Anmache verstehen. Diese direkte Art ist nicht mein Ding.

Noch drei Stationen, dann muss ich raus. Ich habe das Gefühl sie spürt, dass ich sie beobachte. So wie ich spüre, wenn jemand hinter mir steht und mich anstarrt. Dieser Spürsinn ist evolutionsbedingt. Früher konnten die Menschen nur überleben, weil sie den Säbelzahntiger in ihrem Rücken erahnten, noch bevor sie ihn sehen konnten.

Das zischende Geräusch der sich schließenden Zugtüren reißt mich aus den Gedanken. Das Abteil hat sich geleert. Noch zwei Stationen. Ich kann es nicht lassen, sie zu beobachten. Für einen kurzen Moment schaut sie auf. Unsere Blicke treffen sich. Dann vertieft sie sich wieder lächelnd in ihr rotes Buch. Ein Schaffner verlangt meine Fahrkarte. Ich bin bisher noch nie auf dieser Strecke kontrolliert worden. Ausgerechnet heute! Verärgert durchsuche ich meine Jacke und finde den Fahrschein zu guter Letzt in einer der Innentaschen. Der Zug hält. Auf dem Bahnsteig nur noch wenige Fahrgäste. Auch die Frau mit dem roten Buch ist ausgestiegen. Sie geht an meinem Fenster vorbei, dreht sich um, und lächelt mich mit großen Augen an. Noch bevor ich zurücklächeln kann, nimmt sie der anfahrende Zug aus meinem Blickfeld. Verdammt, ich hätte sie ansprechen sollen. Jetzt werde ich den Titel des roten Buches nie erfahren. Ist es wirklich nur das Buch, das mich interessiert? Egal, vielleicht fährt sie morgen Abend wieder S-Bahn? Dann spreche ich sie an. Ja, ich frage sie nach dem roten Buch und – nach ihrem Namen.

Enttäuscht geht mein Blick zurück in das leere Abteil. Ich traue meinen Augen nicht. Auf dem Platz, auf dem noch vor wenigen Sekunden diese nette, gut aussehende Frau saß, liegt – das rote Buch!
„Dieser Zug endet hier! Wir bitten alle Fahrgäste auszusteigen!“
Eilig verlasse ich das Abteil. Das Buch mit dem leuchtend roten Schutzumschlag in meiner Tasche.

 

One Thought on “Wählt den Publikumsliebling! Jochen Hübbe: Die Frau mit dem roten Buch”

  • Schön geschrieben, hat erotische Spannung, die ausbaufähig ist. Interessiert er sich doch nur für das rote Buch, und den Titel. Warum? Weil es rot ist? Weil sie lächelt? Der Inhalt interessiert? Nein, eindeutig auch die Frau. Mir gefällt es.

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