Heute präsentieren wir euch die zweite Gewinnergeschichte unseres Kurzgeschichten-wettbewerbs, einen Favoriten unseres Jurymitglieds Rebecca. Mach mit und wähle deinen Publikumsliebling aus den 11 Gewinnertexten:
- Die Gewinnertexte werden in den nächsten 11 Wochen immer Mittwochs wöchentlich nacheinander veröffentlicht.
- Jeder Gewinnertext wird über unsere Facebook-Seite verlinkt.
- Über Facebook kann jeder veröffentlichte Text „geliked“ werden. Der Text mit den meisten „Likes“ innerhalb einer Woche (bis zur Veröffentlichung des nächsten Textes am darauffolgenden Mittwoch) wird der Publikumsliebling und gewinnt einen Büchertisch-Buchgutschein im Wert von 20 € .
Viel Spaß beim Lesen!
Manuela Boé: Drei Latinos in der Berliner S-Bahn
Das Buch auf der Bahnsteigbank hat wohl einer vergessen. Berufsverkehr. Zwischen 18 und 19 Uhr scheint die ganze Stadt auf den Beinen zu sein. Die Arbeit ist getan und tausende von Menschen strömen in alle Himmelsrichtungen. Die Hitze des Tages hängt noch über der Stadt und heizt gnadenlos alle Wagons auf. Hinzu kommen wieder einmal veränderte Fahrtzeiten und Pendelverkehr auf einigen Strecken.
Der nächste Zug fährt ein. Eine riesige Menschentraube presst sich durch die Türöffnungen der Wagons, vorbei an den bereits wartenden Fahrgästen, immer weiter in die Gänge, bis nichts mehr geht. Gabi hat noch einen der raren Sitzplätze ergattert und ist froh, in den unteren Schichten dieser atmosphärischen Verwirbelungen noch etwas frischere Luft zu haben. Vor ihr zwei lesende Berliner – sie lächelt, hier, in dieser Stadt ein typisches Bild im Nahverkehr. Das bringt Ruhe und ein wenig Selbstvergessenheit. Eine Viererbank weiter läuft eine angeregte Unterhaltung. Spanisch. Soweit kann Gabi die munteren Stadtbesucher einordnen. Sie haben große hellgelbe Strohhüte auf den Köpfen, fast schon Sombreros. Ihre Gesichter sind bronzebraun von der südlichen Sonne gefärbt und ihr Lachen ist einfach fröhlich. Wie die meisten Südländer haben sie sich unentwegt etwas zu erzählen.
Die Stimmung hellt sich insgesamt sichtlich auf und sie beginnen zu singen! Die Buchleser ihr gegenüber summen schon leise mit und die Sitzreihe auf der anderen Seite wippt mit Füßen, Händen und Köpfen bereits im Takt mit. Das fröhliche Treiben wird durch eine kaum zu verstehende Lautsprecheransage unterbrochen: DIESER Zsss – nnnNDET HIER! Brummeln und Stöhnen macht sich bei einigen breit, aber die meisten der übrig gebliebenen Gäste hören nicht auf die kurze vorbeirauschende Ansage und scharen sich um die drei munteren Gesellen. Der Zug hält und aus den Abteilen laufen die Menschen auf den schon vollen Bahnsteig und vermischen sich mit den Wartenden. Nur dieses eine Abteil bleibt fast so, wie es ist. Sie sind gebannt von der Musik, den Stimmen und der Fröhlichkeit dieser drei wunderbaren lateinamerikanischen Sonnen! Der im Prinzip leere Zug, der jedoch in seiner Mitte ein Abteil voller singender, tanzender und schunkelnder Menschen transportiert, setzt sich in Richtung Tunnel und Abstellgleis in Bewegung. Wie eine davon rauschende Geisterbahn fährt er hinab in das Dunkel dicker Tunnelwände.
Gabi ist mittendrin. Sie hat die Zeit vergessen. Von ihrem Platz aus beobachtet sie immer noch die drei lustigen Sänger und schaut gebannt in die verwegenen Augen dieses einen Musikanten. Die Augen lachen sie an und funkeln ihr entgegen. Sie wollen mehr, mehr von ihrer Gegenwart. Jetzt kann sie nicht mehr anders und lacht Ihnen mit voller Freude in die Gesichter, springt auf und tänzelt auf den paar Zentimetern Freifläche vor den drei Latinos herum. Der ganze Wagon scheint zu beben. Das Licht dieses einen Wagons erhellt die stockfinstere Nacht, die sonst alles um sich herum verschlingt.
Doch da, ein schummeriges Licht durchdringt die endlose Weite dieses Tunnels. Durch das Dunkel läuft eine Gestalt mit bedächtigen Schritten. Der Kopf ist nach vorn geneigt, hin zu der Laterne, die er vor sich her trägt und die leicht im Rhythmus seiner Schritte wippt. Wäre nicht der Schein dieser uralten Laterne, würde ihn hier unten niemand wahrnehmen. Sein schwarzer Mantel reicht bis zu den dicken dunklen Lederstiefeln, die ihn sicher durch diese stillgelegten Gleisanlagen tragen. Es ist ein alter Wärter, der hier seine Abendrunde dreht. Mit bedächtigen Schritten nähert er sich dem Zug. Sein Blick ist gesenkt, um nicht über die Gleise zu stolpern, an denen er sich entlang hangelt. Er kennt diesen Ort seit vielen Jahrzehnten. Das ist sein Arbeitsplatz, zu dem er gehört und den er kennt wie kein anderer. Er wusste bereits, dass dieser Zug heute hier halten soll. Er schließt die Türen auf und grinst hinein in die Menge: „Tolle Stimmung hier! Die von letzter Woche waren irgendwie panisch!“