Wir präsentieren: die 10., und damit vorletzte, Gewinnergeschichte  unseres Kurzgeschichten-Wettbewerbs. Mach mit und wähle deinen Publikumsliebling aus den 11 Gewinnertexten:

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Viel Spaß beim Lesen!

Foto: Jaume Plensa
Foto: Jaume Plensa

Miriam Schäfer: Hunger

Das Buch lag aufgeschlagen über der Armlehne des alten, zerschlissenen Sessels. Es fing meine Augen im selben Augenblick, in dem ich das menschenleere Wohnzimmer betrat. Zahllose Erinnerungen drängten sich in diesem Raum, doch ich hatte bloß Augen für das Buch.

So, wie es da lag, schien es, als habe sie den Sessel gerade erst verlassen. Als habe sie es lediglich abgelegt, um in der Küche frischen Tee aufzugießen und als könne ich noch die Wärme ihrer Finger auf dem Umschlag spüren, wenn ich ihn nur berührte.

Ich ging näher. Im Zimmer war es kalt. Wie ein lauerndes Raubtier blickte das Buch zu mir empor und wartete. Ich konnte mich nicht erinnern, es je in ihrem Regal gesehen zu haben. Sein Einband aus zerfurchtem Leder war abgegriffen. Ihn zierte kein Titel, es wirkte unscheinbar, harmlos, und doch kribbelten meine Fingerspitzen vor Neugierde.

Langsam streckte ich meine Hand und hob es auf. Es schien zwischen meinen Fingern zu pulsieren. Ich drehte es um, gespannt, welche Worte sie zuletzt darin gelesen haben mochte. Aber die Seiten waren leer. Verwundert blätterte ich zurück, doch überall erwartete mich nur weißes Papier. Ich klappte das Buch zu und öffnete es von neuem. Und diesmal enthielt es lockende und flüsternde Buchstaben, auf die meine Augen sich sogleich stürzten, um sie gierig zu verschlingen. Mit jedem Wort wuchsen meine Angst und mein Verlangen. Ich versuchte den Blick abzuwenden, aber es war zu spät. Die Zeilen hielten mich fest und zwangen mich, weiterzulesen:

 Das Buch lag aufgeschlagen über der Armlehne des alten, zerschlissenen Sessels. Es fing ihre Augen im selben Augenblick, in dem sie das menschenleere Wohnzimmer betrat. Zahllose Erinnerungen drängten sich in diesem Raum, doch sie hatte bloß Augen für das Buch.

So, wie es da lag, schien es, als habe sie den Sessel gerade erst verlassen. Als habe sie es lediglich abgelegt, um in der Küche frischen Tee aufzugießen und als könne sie noch die Wärme ihrer Finger auf dem Umschlag spüren, wenn sie ihn nur berührte.

Sie ging näher. Im Zimmer war es kalt. Wie ein lauerndes Raubtier blickte das Buch zu ihr empor und wartete. Sie konnte sich nicht erinnern, es je in ihrem Regal gesehen zu haben. Sein Einband aus zerfurchtem Leder war abgegriffen. Ihn zierte kein Titel, es wirkte unscheinbar, harmlos, und doch kribbelten ihre Fingerspitzen vor Neugierde.

Langsam streckte sie ihre Hand und hob es auf. Es schien zwischen ihren Fingern zu pulsieren. Sie drehte es um, gespannt, welche Worte sie zuletzt darin gelesen haben mochte. Aber die Seiten waren leer. Verwundert blätterte sie zurück, doch überall erwartete sie nur weißes Papier. Sie klappte das Buch zu und öffnete es von neuem. Und diesmal enthielt es lockende und flüsternde Buchstaben, auf die ihre Augen sich sogleich stürzten, um sie gierig zu verschlingen. Mit jedem Wort wuchsen ihre Angst und ihr Verlangen. Sie versuchte den Blick abzuwenden, aber es war zu spät. Die Zeilen hielten sie fest und zwangen sie, weiterzulesen.

Und sie nahm alles auf, was das Buch für sie bereithielt. Zu ihrer Furcht gesellte sich Wissen und zu ihm ein wachsender Schrecken. Doch sie las weiter, vollkommen gebannt, und verschlang, was das Buch ihr gab. Sie merkte nicht, wie sie sich verwandelte, dass sie nie wieder die sein würde, die sie gewesen war.

Und als es schließlich Zeit war zu gehen, blieb nichts zurück. Nur die Erinnerung und ein unscheinbares Buch, das in einem menschenleeren Zimmer wartend auf der Armlehne eines alten Sessels lag.

 

Miriam Schäfer ist 35, Autorin und Fachangestellte für Medien und Information

 

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