Wir präsentieren euch einen Text unseres Schreibwettbewerbs für Kinder, dessen Gewinner eine Jury aus Büchertisch-Mitarbeiterinnen ausgewählt hat. Alle 6 GewinnerInnen erhalten ein Buchpaket und ihr Text wird auf unserer Webseite veröffentlicht.
(Vor)lesen verbindet
von Cecilie Albin, 12 Jahre
Thema 1: Lesen verbindet
Ein stürmischer Oktobernachmittag. Mijo saß am Fenster der Berliner Altbauwohnung und starrte aus dem Fenster. Die Farben der Autos, Bäume und Häuser vermischten sich zu einem hässlichen Braun. Es war Sonntag und morgen fing die Schule wieder an. Wie jeden Morgen würde er mit einem schlechten Gefühl aufwachen, das den Tag andauern würde, sich fertig machen für die Schule. Mit seinen drei Geschwistern am Tisch sitzen und Haferschleim runterwürgen. Danach würde er mit seinem kleinen Bruder in die Schule gehen, im Gebäude würden sie sich trennen.
Mijo würde sich noch ein Stockwerk höher schleppen und dann in den Klassenraum der 7c einbiegen. Er würde sich still auf seinen Platz setzen und niemand würde sagen: „Hey Mijo! Schön, dass du wieder da bist!“ Sie mochten ihn nicht, seine Mitschüler. Er galt als Loser. Er hatte Pickel. Außerdem war er nicht gerade dünn. Seine Familie besaß nicht das Geld, ihm ständig die neuesten Trends zu kaufen. Das Leben ist schon ziemlich gemein, dachte Mijo. Manche bekommen alles. Andere nur ganz wenig. Heute war Montag. Er hatte fast die ganze Nacht durchgelesen. Ja, beim Lesen konnte er in andere Welten eintauchen. Den hässlichen Mijo abstreifen. Lesen war sein Ein und Alles.
Müde schleifte er sich ins Badezimmer und spritzte sich ein bisschen Wasser ins Gesicht. Kurz darauf stand er abmarschbereit an der Tür. Wie jeden Tag lief er den einen Kilometer zur Schule. Auf dem Weg kickte er eine leere Cola-Dose vor sich her. Der Unterricht begann. Alles war wie immer. Mijo seufzte.
Frau Magners vorlaute Stimme schallte durch den Klassenraum. „In einer Woche wird ein Vorlesewettbewerb ausgetragen. Alle Kinder werden einen Text aus einem Buch vorlesen. Nach einem Klassensieger wird ein Schulsieger bestimmt. Er tritt dann gegen andere Schulen an. Schöne Pause!“ Von nun an schloss sich Mijo jeden Abend ein und las sich laut vor.
Der nächste Montag. Es klingelte zum Unterrichtsbeginn. Normalerweise war er dann nicht besonders froh, aber jetzt war er aufgeregt. Es war der Tag des Vorlesewettbewerbs. Der Unterricht begann. Die ersten Kinder wurden aufgerufen, sich nach vorne zu begeben und aus „Harry Potter“ vorzulesen. Mijo rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Und dann – „Mijo! Komm bitte vor und lies!“ Mit zitternden Knien wankte er nach vorne, setzte sich auf den Stuhl – und begann vorzulesen. Anfangs stockte er noch ein bisschen. Doch er las sich rein. Vergaß alles rings um sich. Er spann die Kinder regelrecht in die Geschichte ein. Es war, als würde er nur für sich lesen. Als wäre niemand da, dem er vorlas. Er war wieder in seiner eigenen Welt. „Mijo, das reicht“ der Zauber wurde unterbrochen. Langsam fingen die ersten Kinder an zu klatschen. Immer mehr stimmten ein. Es wurde für ihn geklatscht! Ein paar Kinder standen sogar auf. Mijo strahlte. Zwei Wochen später wurde er Schulsieger und trat weiter an. Die ganze Klasse fieberte mit. „Wow, das war so toll!“ So etwas bekam er von nun an zu hören. Er war beliebt. Und glücklich.
Statement der Jury
An Cecilies Geschichte gefällt uns, dass sie sich überzeugend in die Lage eines Außenseiters versetzt und mit treffenden Formulierungen seine Verzweiflung spürbar macht. Schön ist, dass Cecilie im weiteren Verlauf zeigt, dass in jedem von uns Talente schlummern können, die weder man selbst noch andere vermuten. Außerdem wird deutlich: Lesen kann nicht nur für einen selbst, sondern auch für andere neue Welten eröffnen.