Eine Rezension unseres Kunden Jonas:
Franz Hessel flaniert durch Berlin, mit offenem, unvoreingenommen Blick, mit Sinn und Spürnase für all die Facetten der pulsierenden Großstadt. Quer durch alle Viertel, tags wie nachts, mit verschiedenen Begleitern ist Hessel auf den Beinen, immer mit dem Ziel vor Augen „eine Art Heimatkunde“ zu betreiben, sich „um die Vergangenheit und Zukunft dieser Stadt kümmern, dieser Stadt, die immer unterwegs, immer im Begriff anders zu werden, ist.“
Berlin, das ist im Jahr der Ersterscheinung, 1929, eine Stadt voller Leben und voller Aufbruch, trotz der langsam aufziehenden Weltwirtschaftskrise (von der jedoch im Text noch nichts zu erahnen ist). Hessels beeindruckende Virtuosität besteht vor allem in der äußerst bildhaften, minutiösen, aber nie ausufernden oder langatmigen Beschreibung dessen, was ihm ins Blickfeld gerät. Er beherrscht in der Tat das Flanieren als „eine Art Lektüre der Straße“. Darin ist er Walter Benjamin und dessen Passagen-Werk – und entfernt auch den Figuren eines Robert Walser – nicht unähnlich.
Deutlich zeichnet Hessel auch die Widersprüche der Großstadt auf: Hektik und Lärm auf der einen, Tanz, Schönheit und Leben auf der anderen Seite. Gesellschaftlich rast das Berlin der 20er Jahre auf den breiten Autobahnen der Moderne und ist gleichzeitig immer noch diese „Spielzeugschachtel“, in der man den Duft des vergangenen Kaiserreiches an jeder Ecke förmlich riechen kann. Auch darin besteht ein Reiz des Buches: Hessel beschränkt sich nicht auf das reine Beschreiben, sondern reflektiert im Spazierengehen auch all die Geschichten, Hintergründe und Personen, die da und dort sich ereignet oder gewirkt haben, blickt zurück in vergangene Zeiten und denkt nach über die Zukunft seiner Stadt. Er beschreibt Berlin nicht rein topographisch, sondern vielmehr als kulturelles Gesamtphänomen. Man merkt: Hessel kennt und mag seine Stadt.
Eines Abends ist Hessel trotzdem müde „von so viel Berlin“. Das wird dem Leser von Spazieren in Berlin gewiss nicht passieren. Im Gegenteil: Das Buch macht Lust sofort aufzubrechen! Und wie Zygmunt Bauman darlegt, ist das Flanieren schließlich eine postmoderne und damit ganz und gar gegenwärtige Lebensart. Aus dem Vergleich mit Hessels Aufzeichnungen und der Gegenwart kann der Leser und Flaneur des 21. Jahrhunderts einigen Gewinn ziehen, vorausgesetzt ihm gelingt es, Berlin staunend und mit dem dafür notwendigen „Zeitlupenblick“ zu durchstreifen. Dafür ist heutzutage nun wirkliche keine Zeit? Das war wohl schon damals für viele nicht anders – und Hessel liefert das Gegenargument gleich mit: „Dahinter steckt ein falscher Ehrgeiz, ihr Fleißigen.“
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Titel: Spazieren in Berlin
Autor: Franz Hessel
Verlag: Berlin Verlag
Genre: Belletristik
ISBN: 978-3833308147
Preis: 9,90 Euro
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