Eine Rezension unseres Kunden Gunnar:

978-3-552-05644-2_2135714353-54Mitten in Paris steht die Kirche Les Innocents. Daneben liegt der Friedhof der Unschuldigen. Hier wurden seit ältesten Zeiten Massenbestattungen nach Seuchen und Hungersnöten durchgeführt und große anonyme Armengräber angelegt. Der Friedhof ist längst überfüllt, das Bodenniveau liegt weit über dem der angrenzenden Straßen. Schon einmal ist eine Mauer unter dem Druck des Erdreichs gebrochen und hat den Inhalt eines Armengrabes in den Keller eines angrenzenden Hauses entleert. Faulgase treten aus und vergiften die Anwohner, Lebensmittel verderben in kürzester Zeit, Kerzen erlöschen wie von Geisterhand. Kirche und Friedhof sind bereits seit fünf Jahren geschlossen, als Jean-Baptiste Baratte, ein junger Ingenieur aus der Normandie, den Auftrag erhält, den Totenacker endgültig zu beseitigen und die vergiftete Atmosphäre des Stadtteils zu reinigen.

Als Baratte im Oktober 1785 in Paris eintrifft, muss er feststellen, dass längst nicht alle Anwohner den Friedhof loswerden möchten. Für die einen ist der Friedhof zu einem identitätsstiftenden Ort geworden, die anderen fürchten die Geister der Toten. Unterstützung findet er bei Armand, dem Organisten der Kirche, der 14-jährigen Enkelin des Küsters und der Prostituierten Héloise, in die er sich verliebt und die er aus ihrem „langwierigen Projekt der Selbstentwürdigung“ zu befreien sucht. Kämpfen muss er gegen den Widerstand seiner Vermieter, der Familie Monnard, und den greisen Priesters Colbert.

Baratte lässt seinen alten Freund Lecoeur mit dreißig ausgewählten Arbeitern aus den Bergwerken von Valenciennes zur Beseitigung des Friedhofs kommen. Das sind raue und grobschlächtige Gesellen, die harte körperliche Arbeit unter widrigen Umständen gewohnt sind. Umgeben von fauligem Gestank heben sie die Gräber aus. Die Knochen werden für den Transport in die Katakomben von Paris sorgfältig sortiert. Doch dann stoßen sie auf die unversehrten Leichen zweier junger Frauen, vor mehr als fünfzig Jahren bestattet, und auf die behutsam nebeneinander liegenden Skelette von drei dutzend Kindern, Opfer einer Seuche in einem Waisenhaus, wie sich der alte Küster erinnert. Die Moral sinkt; Baratte verteilt großzügig Schnaps und drückt ein Auge zu, wenn nachts Frauen in die Zelte der Arbeiter schleichen. Bis der Friedhof schließlich das erste Opfer fordert.

Andrew Miller hat die Atmosphäre von Paris am Vorabend der französischen Revolution mit tiefer historischer Kenntnis eingefangen. Er zeichnet ein authentisches Bild der Gesellschaft und der Zustände des Friedhofviertels. Die Schilderung des Friedhofs und dessen Beseitigung ist äußerst sprachgewandt und gelingt derart bildhaft, dass der Leser beim Eintauchen in diese düstere Welt meint, die verpesteten Ausdünstungen des Friedhofes selbst zu schmecken. Die detaillierte Beschreibung des Aushebens der Grüfte mutet mitunter ein wenig makaber an, wird aber nicht geschmacklos, da sie keinem Selbstzweck folgt. Abriss von Kirche und Gottesacker stehen metaphorisch für den bevorstehenden gesellschaftlichen Umbruch. Miller versinnbildlicht daran die Befreiung der Gesellschaft und den Abbruch der alten Strukturen, das Ende des Ancien Régime. Seine Hauptfigur Baratte ist ein Freidenker und Anhänger Voltaires. Der Organist Armand schleicht nachts mit Anhängern der „Partei der Zukunft“ durch die Stadt und schreibt Parolen gegen den König an Wände und Türen. „Wir werden die Vergangenheit beseitigen. Die Geschichte hat uns lange genug behindert.“, sagt Armand.

Der Friedhof der Unschuldigen ist ein historischer Roman. Doch er ist noch mehr. Die Kehrseite der Aufklärung, die Folgen der großen Sehnsucht nach Freiheit, nämlich Massenvernichtung und Gewalt, wirft schon ihre Schatten voraus – verkörpert durch den Arzt Guillotin, der auf dem Friedhof die verschiedenen Stadien der Zersetzung des menschlichen Körpers studiert. Wenige Jahre später sollte ein nach ihm benanntes Hinrichtungsinstrument Verbreitung finden.

Was den Roman am Ende auszeichnet, ist nicht allein die literarische Qualität, sondern vor allem der immerwährende Konflikt zwischen der „Partei der Vergangenheit“ und der „Partei der Zukunft“, wodurch er als Parabel einen Bezug zur Gegenwart erhält.

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Titel: Friedhof der Unschuldigen
Autor: Andrew Miller

Übersetzer: Nikolaus Stingl
Verlag:  Zsolnay
Genre: Belletristik
ISBN: 9783552056442
Preis: 21,90 Euro

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