Eine Rezension unseres Mitarbeiters Michael:

Seltsame Sterne starren zu Erde,
Eisenfarbene mit Sehnsuchtsschweifen,
Mit brennenden Armen die Liebe suchen…

Gleich zu Beginn ihres Buches „Seltsame Sterne starren zur Erde“ stimmt Emine Sevgi Özdamar den Leser mit diesem Zitat aus einem Gedicht von Else Lasker Schüler auf den poetische Gestus ihres Werks ein. Der autobiografische Roman mit Versatzstücken aus Özdamars Tagebuch erzählt von der Zeit der Autorin im geteilten Berlin der 70er Jahre.

Im ersten Teil berichtet sie von ihrer türkischen Heimat und der Trennung von ihrem Mann. Von Istanbul und ihrer Großmutter, die mit den neuen Erscheinungen der Moderne nicht zurechtkommt. Özdamar floh wegen der Militärdiktatur, aber auch aus dem sehnlichen Wunsch heraus, nach Berlin zu gehen und Brechts Theater kennenzulernen. Dort angekommen wird sie zur Dauer-Grenzgängerin in der gespaltenen Metropole.

Wohnen in Berlin-West, in einer „typischen“ 70er-Jahre-WG, wo man/frau nackt herumläuft und auch mal zu dritt in der großen Badewanne sitzt. Berufliches und kulturelles Engagement in Berlin-Ost, an der Volksbühne bei Benno Besson. Theaterbesuche beim berühmten Berliner Ensemble (Theater am Schiffbauerdamm). Bis sie ein Visum für Ostberlin bekommt, wechselt sie permanent  hin und her, kennt jeden Grenzbeamten und beschreibt bildhaft und anschaulich die zwei verschiedenen Welten. Der Grenzübertritt findet auch innerlich statt. Sie muss oft nicht nur Geld und Geschenke zurücklassen (manches kommt aber auch durch), sondern immer auch ein Stück ihres gegenwärtigen Ichs; ihrer Seele, der im anderen Teil der Stadt zurück bleibt. Dieser Wechsel ist so elementar, dass sie überrascht ist, wenn es jeweils im Ost- oder Westteil  genauso regnet wie im anderen.

Es ist ein Einblick in die Welt der Dinge und der Menschen dieser „beiden“ Städte, wie sie sonst wohl kaum von jemandem wahrgenommen werden konnte. E. S. Özdamar schenkt dem Leser hier eine außergewöhnliche Gegenüberstellung – mal genießt sie die karge, minimalistische Schlichtheit des Ostens, mal empfindet sie die überladene bunte Vielfalt des Westens als unangenehm. Sie beschreibt die Gleichzeitigkeit von Nähe und Ferne, wenn die Post von Pankow nach Wedding Wochen oder Monate braucht, obwohl die WG der Freunde nur drei S-Bahn-Haltestellen entfernt ist.

Im zweiten Teil berichtet E.S. Özdamar von ihrem Engagement am Theater und ihren Kontakten zu Benno Besson und Heiner Müller. Dieses Tagebuch wird durch die Skizzen und Beschreibungen der Theaterszenen, die sie in ein liniertes Schulheft zeichnete, bereichert. Auch hier bekommen wir einen aufschlussreichen Einblick in das damalige Leben in Berlin. Es war die Zeit von Baader und Meinhof in der BRD, Fidel Castro kam zum Staatsbesuch in die DDR. Ungewöhnliche Einsichten werden im Telegrammstil durch die Beschreibung der alltäglichen Gedanken und Gefühle der Menschen in der geteilten Stadt oder auch mal durch Sprüche an Toilettenwänden vermittelt.

Es ist ein besonderes Buch, weil uns hier eine junge Frau, die aus einem ganz anderen Kulturkreis stammt, neutral und unaufgeregt von der geteilten Stadt erzählt. Sie wird nicht wütend, wenn ihr die Grenzbeamten die Rock-Schallplatten wegnehmen. Sie regt sich nicht auf über rassistische oder sexistische Konfrontationen durch Männer in der S-Bahn oder im Restaurant. Zumindest lässt sie uns das nicht erkennen. Nein, sie gibt uns Raum die Ereignisse selbst zu erfühlen, mitzuerleben und zu beurteilen.

Und ich glaube, dass das ihre Kunst ausmacht: Mit ihren lakonischen Sätzen bringt die Autorin uns die vergangenen Momente näher, als durch umständliche und langwierige Beschreibungen und Analysen. Sie übermittelt uns die Einsamkeit und Melancholie, aber auch die Liebe und den Humor der fremden Stadt und ihrer Menschen mit viel Feingefühl und Sensibilität.

Die 1946 geborene Schauspielerin und Autorin Emine Sevgi Özdamar hat zwischen 1967 und 1970 die Schauspielschule in Istanbul besucht und hatte sich als 19-Jährige schon einmal in Deutschland aufgehalten. Inspiriert von Bert Brecht ging sie an die Berliner Volksbühne, wo sie mit Benno Besson und Matthias Langhoff zusammen gearbeitet hat. Sie hat zahlreiche Preise erhalten, u.a. den Kleist-Preis für Seltsame Sterne starren zur Erde. Vor wenigen Wochen kam sie für eine Lesung zum Berliner Büchertisch.

Obwohl das Theater nicht meine Welt ist, hat mir das Buch wirklich sehr gut gefallen und ich kann es nur jeder/m Kultur- und Geschichtsinteressierten/m empfehlen!

Dieses Buch ist im Onlineshop und in unseren Läden bestellbar. Mit deiner Bestellung bei uns förderst du unsere Arbeit als soziales und integratives Unternehmen und unterstützt uns bei der aktiven Leseförderung durch Projekte wie den Berliner Lesetroll.

Titel: Seltsame Sterne starren zur Erde
Autor: Emine Sevgi Özdamar
Verlag: Kiepenheuer & Witsch
Genre: Biografie
ISBN: 9783462034288
Preis: 8,95 Euro

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