Eine Rezension unserer Kundin Patricia:

Was wäre, würde man sein Leben lang mit einem persönlichen Geheimnis leben? Niemand darf es je erfahren. Wobei aber das Geheimnis an sich eigentlich harmloser ist als der Schleier, der es umhüllt. Man könnte es jederzeit zugeben, Hilfe erhalten und von der Last, mit einer ewigen Lüge zu leben, befreit sein. Der Preis dafür wäre das wohl ewig anhaltende Schamgefühl.

Wenn man Tag für Tag erklären muss wieso und weshalb. Und wenn man sich dann noch für sein eigenes Leben rechtfertigen muss. Ist es das wirklich wert?

In dem Roman „Der Vorleser“ geht es um den 15-jährigen Michael, der von einer neuen, impulsiven Erfahrung seines Lebens erzählt. Es handelt von einer Affäre mit einer älteren Frau. Einen Sommer lang geht Michael regelmäßig zu Hanna, liest ihr zuerst vor und anschließend fallen sie übereinander her. Mit einem Mal verschwindet Hanna spurlos. Und damit beginnt für Michael die Zeit des Nachdenkens.

Er beginnt ein Jurastudium und trifft, während eines KZ-Prozesses, den er mit seiner Seminargruppe besucht, wieder auf Hanna. Sie wird als KZ-Aufseherin angeklagt. Wie sich herausstellt, soll sie mit fünf anderen Aufseherinnen eine brennende und verschlossene Kirche bewacht haben. In einem Schriftstück ist festgehalten, dass sich viele Juden in der Kirche aufhielten. Sie sollte als Gefangenenlager dienen. Das Schriftstück selbst wurde von den Aufseherinnen geschrieben. Die Frage ist: hat Hanna den Brief geschrieben? Falls ja, hieße ihre Strafe lebenslänglich. Eine Schriftprobe soll dies nachweisen. Doch noch bevor es dazu kommt, gesteht Hanna plötzlich die Tat. Der Grund für Hannas Handeln, liegt in ihrem Geheimnis, welches ein grundlegendes Thema des Buches darstellt.

Nach einigen Jahren in Haft, erhält sie Kassetten von Michael. Zu dieser Zeit ist er bereits Richter. Er liest für sie Bücher laut vor und nimmt es auf. Nach 18 Jahren hinter Gittern darf Hanna nun wieder in Freiheit leben. Mit Hilfe von Michael, der viele Jahre mit Schuldgefühlen kämpfte und dessen einzige Ehe in die Brüche ging, soll Hanna sich in die neue Welt einfinden. Am Abend vor der Entlassung bringt sich Hanna um.

 

Bernhard Schlink ist mit seinem Werk „Der Vorleser“ auf verschiedene Themen eingegangen. Dabei schreibt er aus der Sicht von Michael. Mit Bravour schafft es Schlink, den Leser immer wieder zum Nachdenken anzuregen. Das erste, womit sich der Leser auseinander setzen muss, ist die Frage, ob man die Beziehung zwischen Michael und Hanna Liebe nennen kann oder ist es nur ein Machtspiel Hannas?

„ ‚Verzeihst du mir?‘ Sie nickte. ‚Liebst du mich?‘ Sie nickte wieder. […] Ich hatte nach kurzem Kampf kapituliert […] Wenn sie hart wurde, bettelte ich darum, dass sie mir wieder gut ist, mir verzeiht, mich liebt.“

Tatsache ist, diese Beziehung wird Michael für sein weiteres Leben prägen. Die nächste große Herausforderung ist der Prozess. Hin und her gerissen über Schuld und Unschuld Hannas, grübelt man darüber nach, was richtig und was falsch ist. Gibt es überhaupt Richtig und Falsch? Auch Michael ist sich dessen nicht sicher. Kämpft auch Schlink mit dieser Problematik? – Ein Grund, weswegen dieses Buch bis zum Schluss spannend bleibt.

Als Hannas Geheimnis gelüftet wird, kommen neue Gedanken Michaels bzw. Schlinks hinzu und der Leser sieht viele Dinge aus einer anderen Perspektive. Am Schluss bleiben viele Fragen offen. Und Schlink lässt uns im Dunkeln tappen und nach eigenen Antworten suchen.

Die meiste Zeit ist der Leser auf sich gestellt. Durch Michael gibt Schlink immer wieder Stoff zum Nachdenken. Stoff über einzelne oder unwichtige scheinende Momente und Konflikte der verschiedenen Charaktere.

„ ‚Auch der Henker hasst den, den er hinrichtet, nicht und richtet ihn doch hin. Weil es ihm befohlen wurde? […] Er tut seine Arbeit. Sie sind ihm so gleichgültig, dass er sie ebenso gut töten, wie nicht töten kann.‘ Er sah mich an. ‚Kein „Aber?“ kommen Sie, sagen Sie, dass ein Mensch einem anderen so gleichgültig nicht sein darf.‘ […] Ich war empört und hilflos. Ich suchte nach einem Wort, einem Satz, der das, was er sagte, auslöschen würde. […] ‚Ich habe einmal‘, fuhr er fort, ‚eine Photographie von Erschießungen von Juden gesehen. […] Über den Juden, aus einem Sims in der Wand, sitzt ein Offizier, lässt die Beine baumeln und raucht eine Zigarette. […] Er hat aber auch etwas Zufriedenes, sogar Vergnügtes im Gesicht, vielleicht weil immerhin bald Feierabend ist. Er hasst die Juden nicht…‘ ‚ Waren Sie das? Haben Sie auf dem Sims gesessen und…‘ Er hielt an. Er war ganz bleich und das Mal an seiner Schläfe leuchtete. ‚Raus!’“

Man fiebert mit Michael mit und hofft, er findet einen angemessenen Weg zur Lösung eines Problems.

Über Michael kann Bernhard Schlink einige Gefühle mit ins Spiel bringen.

So haben alle Situationen einen gewissen Grad an Wärme. „Und wenn ich nicht schuldig war, weil der Verrat einer Verbrecherin nicht schuldig machen kann, war ich schuldig, weil ich eine Verbrecherin geliebt hatte.“  Das führt womöglich dazu, dass der Leser, gelenkt von Gefühlen, über Dinge anders urteilt. Fraglich ist nur, welchen Bezug Schlink zu diesen Gefühlen hat. Quälen ihn vielleicht Erfahrungen aus seinem Leben, die er unter anderen Voraussetzungen in diesem Buch nieder schreibt? Mir fallen seine oft überlangen und leicht unverständlichen Sätze auf, die mich zu dem Schluss bringen, dass er während des Schreibens in seinen eigenen Gedankengängen vertieft war. Häufig glaube ich zu spüren, wie Schlink mit sich selbst und seinen eigenen Gefühlen ringt. Wer ist Schlink? Ist er ein grandioser Schriftsteller, dem es gelingt fernab von eigenen Erfahrungen und Gefühlen bei dem Leser Emotionen auszulösen? Oder hat er in diesem Buch eigenes Erleben in ähnlichen Themen verpackt? Wie auch immer die Antwort lautet, dieses Werk, das in viele verschiedene Problematiken eintaucht, ist ein mitreisendes und berührendes Stück Geschichte.

Dieses Buch ist im Onlineshop und in unseren Läden bestellbar. Mit deiner Bestellung bei uns förderst du unsere Arbeit als soziales und integratives Unternehmen und unterstützt uns bei der aktiven Leseförderung durch Projekte wie den Berliner Lesetroll.

Titel: Der Vorleser
Autor: Bernhard Schlink
Verlag: Diogenes Verlag
Genre: Bellestristik
ISBN: 978-3-2572-2953-0
Preis: 2,99 Euro gebraucht, 9,90 Euro neu

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